Obhut des Luftfrachtführers auch für Güter, die er ohne sein Wissen und Wollen befördert

LG Köln, Urteil vom 12.03.2013 – 11 S 250/12

Das von einem Luftfrachtführer zu befördernde Frachtgut kommt auch dann in seine Obhut, wenn dies ohne sein  Wissen und entgegen seiner Transportbedingungen geschieht (Rn.8)

Die Bestimmung des Art 15.3.5 (b) ABB ist (auch in Ansehung der Existenz von IATA-Listen zu “Handgepäck-Gegenständen”)  nach § 307 Abs. 1 und 2 BGB unwirksam anzusehen. Denn diese Vertragsbedingung verstößt auch unter Berücksichtigung von Art. 20 MÜ gegen das zwingende Recht der Art. 17 Abs. 2, 20, 26 MÜ. (Rn.18)

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 9. Februar 2012 – 130 C 148/11 – wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil sowie das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand
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Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen, §§ 313 a Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 2 ZPO, 26 Nr. 8 ZPOEG.

Entscheidungsgründe
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Die Klägerin hat erstinstanzlich Verurteilung der Beklagten aus abgeleitetem Recht unter Beruf auf Art. 17 Abs. 2 des Montrealer Abkommens (MÜ) i.V.m. § 86 VVG wegen eines abhanden gekommenen Koffers ihres Versicherungsnehmers, des Zeugen L, begehrt. Nach klägerseitiger Rücknahme eines Antrages zu vorgerichtlichen Kosten hat das Amtsgericht zunächst im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 01.12.2011 Versäumnisurteil gegen die Beklagte erlassen und nach zulässigerweise erhobenem Einspruch der Beklagten mit Urteil vom 09.02.2012 das Versäumnisurteil vom 01.12.2011 aufrechterhalten. Auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird nach Maßgabe des § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Bezug genommen.

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Mit ihrer Berufung begehrt die Beklagte unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und Aufhebung des Versäumnisurteils vom 01.12.2011 die Abweisung der Klage.

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In zweiter Instanz streiten die Parteien weiter um die bereits in erster Instanz maßgeblichen Rechtsfragen, wobei die Beklagte den Inhalt des verlorenen Koffers sowie den Wert der enthaltenen Gegenstände nicht weiter bestreitet.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 05.02.2013 Bezug genommen.

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Die verfahrensrechtlich bedenkenfreie Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch zu, der sich aus Art. 17 Abs. 2 S. 1 MÜ i.V.m. 86 VVG ergibt.

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Diesem Anspruch stehen weder die Regelungen in Art. 17 Abs. 2 bzw. 20 MÜ, noch die Allgemeinen Beförderungsbedingungen (ABB) der Beklagten, hier 15.3.5 ABB, entgegen.

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Ein Ausschluss des Anspruches ergibt sich zunächst nicht aus Art. 17 Abs. 2 MÜ. Die Beklagte geht fehl in ihrer Ansicht, dass ohne ihr Wissen und entgegen ihrer ABB im aufgegebenen Gepäck beförderte Gegenstände nicht in ihre “Obhut” i.S.d. Art. 17 Abs. 2 MÜ gelangt seien.

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Diese Auslegung des Begriffes der Obhut ist schon deshalb abzulehnen, weil die Frage einer Inobhutnahme bzw. des Befindlichseins eines Gegenstandes in der Obhut des Luftfrachtführers unabhängig davon zu beurteilen sein muss, ob der Luftfrachtführer Kenntnis davon hat, was sich genau in einem aufgegebenen Gepäckstück befindet oder nicht. Die Ansicht der Beklagten würde nämlich dazu führen, dass entweder der Luftfrachtführer nur einen Teil des aufgegebenen Gepäckstückes in Obhut hätte, im Fall hier etwa den Koffer selbst, fünf Hemden, eine Jeans usw., jedoch nicht den Rechner und das Fernglas oder die Beklagte den ganzen Koffer wegen Beinhaltens bestimmter, ihm nicht bekannter Gegenstände nicht in Obhut genommen hat. Eine solche Auslegung des Begriffes “Obhut” ist fernliegend. Ihr stünde im Übrigen aber auch entgegen, dass in diesem Fall Luftfrachtführer bei einem solchen Verständnis über entsprechende Formulierung von Allgemeinen Geschäfts- bzw. Beförderungsbedingungen das (gemäß Art. 26 MÜ zwingende) Haftungsregime des MÜ umgehen könnten, in dem sie in ihren AGB/ABB die Mitnahme bestimmter Kategorien von Gegenständen untersagten. Dem Umstand, dass ein Luftfrachtführer in Unkenntnis über den genauen, ggfs. gefahrerhöhenden Inhalt eines zu befördernden Gepäckstückes ist, trägt vielmehr allein Art. 20 MÜ Rechnung.

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Aber auch nach dieser Regelung des Art. 20 MÜ ist eine Haftung der Beklagten nicht ausgeschlossen.

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Zunächst scheitert der diesbezügliche Beruf der Beklagten darauf, dass die Mitnahme von in Art. 8.4 bzw. 15.3.5 (b) ABB bezeichneten Gegenständen untersagt gewesen sei und daher eine “unrechtmäßige Handlung” des Versicherungsnehmers der Klägerin i.S.d. Art. 20 MÜ gegeben sei. Denn eine “unrechtmäßige Handlung” i.S.d. Art. 20 MÜ des grundsätzlich Schadensersatzberechtigten kann nicht schon in jedwedem Verstoß gegen AGB/ABB des Luftfrachtführers gesehen werden, weil es dieser ansonsten wiederum in der Hand hätte, durch eine etwa Art. 8.4 und 15.3.5 (b) ABB vergleichbare Regelung eine Obliegenheitspflichtverletzung zu konstruieren und auf diese Weise das zwingende Recht des Art. 17 Abs. 2 MÜ auszuhebeln.

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Aber auch im Übrigen scheitert ein Beruf auf Art. 20 MÜ, weil ein schadenskausales Mitverschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin seitens der Beklagten nicht ausreichend vorgetragen worden ist.

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Dies gilt zunächst für den Vortrag des Risikos von Beschädigungen durch Kälte, Feuchte oder Stöße, da sich ein solches Risiko nicht verwirklicht hat.

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Aber auch die Ausführungen zur Unterschlagungs- bzw. Diebstahlsproblematik sind unzureichend. Denn für eine Kürzung oder einen Ausschluss eines klägerseitigen Anspruches wäre zunächst Voraussetzung, dass feststände bzw. zunächst überhaupt vorgetragen wäre, dass der Koffer gestohlen wurde (die durch das AG Baden-Baden, Urteil vom 28.07.1999, 6 C 58/98, angestellten Plausibilitätserwägungen können diesbezüglich nicht als ausreichend angesehen werden – die Entscheidungen OLG Frankfurt, Beschluss vom 25.06.2012, Az.: 16 U 66/12 m.w.N. und AG Charlottenburg, Urteile vom 08.09.2009, Az.: 216 C 141/09, und 09.09.2009, Az.: 207 C 242/09 gehen in vergleichbaren Sachverhalten auf diese Frage nicht ein). Denn einen Diebstahl oder eine Unterschlagung konkret des streitgegenständlichen Koffers hat die Beklagte erstinstanzlich nicht behauptet. Vielmehr hat sie sich auf allgemeine Ausführungen beschränkt, dass der Grund für die Verschollenheit von Gepäckstücken allgemein entweder in einem Diebstahl oder einer Unterschlagung oder auch darin liegen könnte, dass ein nicht identifiziertes Gepäckstück in einem Fundlager irgendwo in der Welt “verstaubt”. Erst in zweiter Instanz erfolgt konkret bezogen auf das streitgegenständliche Gepäckstück der Vortrag, dass letztlich offenbleiben könne, was Ursache für die Verschollenheit des Koffers sei, da er entweder gestohlen oder unterschlagen wurde oder als Fundsache in einem Lager eines Luftfahrtunternehmens ruhe. Abgesehen jedoch davon, dass dieser Vortrag mit Blick auf § 531 Abs. 2 ZPO nicht mehr berücksichtigungsfähig ist, ist dieser auch als nicht erheblich anzusehen. Denn trotz näherer Ausführungen der Beklagten hierzu ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Umstände sie einen anderen Grund als Diebstahl bzw. Unterschlagung des Koffers oder dessen Lagern in einem Fundbüro als Grund für die Unauffindbarkeit des Koffers ausschließen kann. Etwa wäre auch eine mutwillige Zerstörung oder eine mutwillige oder versehentliche Entsorgung des Koffers denkbar. Ihr Vortrag stellt damit bzw. in Ansehung dessen, dass sie keinerlei Kenntnis über das Schicksal des Koffers hat, eine bloße Mutmaßung dar, die keine erhebliche Behauptung eines bestimmten Sachverhaltes stützen kann.

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Ein im Rahmen des Art. 20 MÜ beachtliches Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin kann – jenseits des auch hier zu berücksichtigenden Umstandes eines nicht erheblichen Vortrages zum Schicksal des Koffers – weiterhin nicht darin gesehen werden, dass dieser unvollständige Angaben zu Inhalt und daher inzident auch zum Gewicht des verlorenen Koffers gemacht hat. Zum einen trägt die Beklagte selbst das Gewicht des Koffers vor. Ihr war dieses also zur Gepäckrecherche bekannt und kann daher für den Verlust des Koffers nicht kausal geworden sein. Zum Anderen ist aber auch – ohne entsprechenden Hinweis auf die Wichtigkeit solcherlei Angaben für die Gepäckrecherche (und nicht nur für die Ermittlung der Schadenshöhe), wie es hier nicht erfolgt ist – keine Pflichtverletzung des Versicherungsnehmers der Klägerin darin ersehbar, dass dieser bei der Angabe des verlorenen Gutes nicht auch “die letzte Unterhose” (Zitat Kläger) angegeben hat. Für den Versicherungsnehmer war aus dem Text des Vordruckes (vgl. Bl. 15 d.A.) in keiner Weise ersichtlich, dass Informationen zu Gegenständen geringen Wertes im Rahmen der Kofferfahndung benutzt würden bzw. aus der Angabe von Gegenständen in seinem Koffer auf das Gewicht des Koffers geschätzt würde und dieser Schätzwert ins Suchsystem eingespeist werden würde. Ohne eindeutigen Hinweis hierauf im “baggage inventory form” ist deshalb ein Mitverschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin nicht herleitbar. Im Übrigen ist der Vortrag der Beklagten zur Kausalität der Nichtangabe von Unterwäsche etc. für die Koffersuche (jenseits der Gewichtsproblematik) unzureichend.

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Auch aus dem Umstand, dass der Versicherungsnehmer der Klägerin keinen Adresszettel an seinem Koffer angebracht hatte, folgt – wiederum zusätzlich zum Umstand eines nicht erheblichen Vortrages zum Schicksal des Koffers – kein Ausschluss bzw. keine Kürzung des Anspruches der Klägerin. Die Beklagte hat es nämlich im Rahmen ihrer Ausführungen zu Pflichten des Fluggastes und Mehrfachredundanzen von Identifizierungsmarken unterlassen zu behaupten, dass der “baggage tag” tatsächlich auch vom Koffer des Versicherungsnehmers abgerissen oder abgefallen war und es daher für das Wiederauffinden des Koffers auf einen zusätzlichen Adresszettel am Koffer angekommen sei bzw. der Koffer gerade aufgrund des fehlenden zusätzlichen Namensschildchens unauffindbar geblieben sei. Dies wäre ihr im Übrigen aber auch hier gar nicht möglich gewesen, weil das Behaupten des Verlustes des “baggage tag” in Ansehung dessen, dass die Beklagte keinerlei Informationen zu dieser Frage besitzt, wiederum als bloße Mutmaßung und nicht als erhebliche Behauptung eines bestimmten Sachverhaltes anzusehen wäre.

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Der klägerseitige Anspruch scheitert schließlich auch nicht an den beklagtenseitig verwendeten ABB. Dabei käme hier überhaupt nur der Beruf auf Buchstabe (b) des Art. 15.3.5 ABB infrage, denn Buchstabe (a) stellt eine Wiederholung der Regelung in Art. 17 Abs. 2 MÜ dar und Buchstabe (c) betrifft nicht den Fall eines Gepäckdiebstahles (es gälten jedoch ansonsten die folgenden Erwägungen auch für 15.3.5 Buchstabe (c) ABB, dessen Wirksamkeit im Übrigen auch deswegen infrage zu stellen ist, als dass hier entgegen Art. 20, 26 MÜ eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung für den Fluggast bestimmt wird.).

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Ungeachtet der Tatsache, dass nach dem insoweit klaren Wortlaut des Art. 15.3.5 (b) ABB nur die Haftung für die dort bezeichneten Kataloggegenstände (hier: Laptop, Fernglas (und Fotoapparat)) ausgeschlossen ist, aber nicht auch die Haftung für Koffer und übrigen Kofferinhalt, ist die Bestimmung des Art 15.3.5 (b) ABB (auch in Ansehung der Existenz von IATA-Listen zu “Handgepäck-Gegenständen”) als nach § 307 Abs. 1 und 2 BGB unwirksam anzusehen. Denn diese Vertragsbedingung verstößt auch unter Berücksichtigung von Art. 20 MÜ gegen das zwingende Recht der Art. 17 Abs. 2, 20, 26 MÜ. Denn in Art. 15.3.5. (b) ABB wird – unabhängig von der konkreten Eigenschaft bzw. des Wertes aufgegebenen Gutes, das unter die in Art. 15.3.5 (b) ABB bzw. in Art. 8.4 ABB fällt – eine Haftung der Beklagten ausgeschlossen. Es würde demnach eine Haftung für jegliche unterfallende Gegenstände völlig unabhängig vom Wert der Sache entfallen. Auch die Aufgabe wertarmer und transportunempfindlicher Gegenstände wie etwa Medikamente, ältere, quasi wertlose Rechner oder erkennbar billiger Modeschmuck, führte nach dieser Bestimmung zu einem Ausschluss der Gefährdungshaftung. Weiterhin ist auch zu berücksichtigen, dass Art. 20 MÜ ein Kausalerfordernis enthält, was Art. 15.3.5 (b) ABB nicht wiedergibt. Insoweit steht die Sicht der Kammer in Übereinstimmung mit derjenigen des OLG Köln (Urteil vom 11.04.2003, Az.: 6 U 206/02, vorgehend zu BGH, Urteil vom 05.12.22006, X ZR 165/03), in der dieses ausführt:

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“Denn es mag zwar richtig sein, dass im Einzelfall wie z.B. in den vom Landgericht Köln (ZLW 1988, 265 ff.) und vom Amtsgericht Baden-Baden (RRa 1999, 216 f.) entschiedenen Sachverhalten ein Verschulden des Fluggastes derart überwiegen kann, dass die ansonsten grundsätzlich gegebene Haftung des Luftfrachtführers nach § 254 Abs. 1 BGB gänzlich ausgeschlossen sein kann. Das hängt jedoch von der konkreten Gewichtung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge ab, während die Beklagte in ihrem Beförderungsbedingungen in strukturell unterschiedlicher Form den generellen Ausschluss der Haftung für leichte Fahrlässigkeit ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles erreichen möchte. Das benachteiligt den Fluggast unangemessen, weil Fallkonstellationen denkbar sind, in denen die Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB zu einer Schadensverteilung auf beide Parteien und nicht zum Haftungsausschluss eines Schadensverursachers führen muss. So kann es im Einzelfall insbesondere einen Unterschied machen, ob der Fluggast Sachen wie etwa Schmuck, Kunstgegenstände oder Bargeld in das aufzugebende Gepäck packt, die namentlich wegen des Diebstahls- oder des Beschädigungsrisikos für jedermann erkennbar nicht im aufzugebenden Reisegepäck, sondern im Handgepäck mit sich zu führen sind, oder ob es sich um dem Regelungsbereich der Beförderungsbedingung unterfallende elektronische Gegenstände wie z.B. ein Mobiltelefon, ein elektronischer Reisewecker oder ein Diktiergerät handelt, deren Aufgabe als Reisegepäck nicht von vorneherein und zwingend ein besonders nachlässiges Verhalten des Fluggastes indiziert.”

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, 26 Nr. 8 ZPOEG.

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Die Zulassung der Revision nach § 543 ZPO war nicht veranlasst.

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Berufungsstreitwert: 866,49 EUR

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